Weltanschaulicher Kommentar eines Hundes

Unser Hund ist dumm, saudumm, auch wenn das ein zoologisches Paradoxon sein mag. Aber er bellt die Kirchenglocken an. Soweit reicht sein kümmerlicher Verstand also doch, um gegen diesen Versuch der weltanschaulichen Infiltrierung zu protestieren, zumal sie mit einer entsprechenden Lautstärke einhergeht. Es ist nicht so , dass unser Hund alles anbellt, was Lärm macht. Das Anbellen der Kirchenglocken ist schon sehr selektiv. Und es ist nicht nur ein einfaches Anbellen, der Hund stürmt, schon bellend, mit sichtlicher Empörung zum nordwestlichen Ende unseres Gartens, jenem Punkt, von dem aus er den Verursacher des Lärms am besten im Blickfeld hat, hält abrupt inne und intensiviert sein Bellen. Ich gehe davon aus, dass der Hund weltanschaulich neutral ist, so neutral, wie ein Hund nur irgend sein kann, und er somit nicht die spezielle Ausprägung des seligmachenwollenden Gebimmels bebellt, sondern das Seligmachenwollen an sich. Religion ist Privat­sache und soll auch privat bleiben, denkt sich der Hund, ver­schont mich mit euren Ding-Dong-Exzessen und Frömmigkeits­demonstrationen. Und soweit ich unseren Hund kenne, meint er das ernst mit seiner weltanschaulichen Neutralität. Er würde genauso gegen ein „Allahu akbar“-Gejodle Sturm bellen.

Mich selbst stört das Gebimmel nicht. Ich habe immer in Hörweite einer Kirche gewohnt. Mich rufen die Glocken nicht, mich stören sie aber auch nicht, ich habe mich daran gewöhnt wie an den täglichen Stuhlgang nach dem Aufstehen. Das kommt alles erst wieder ins Bewusstsein, wenn es einmal ausbleibt, obwohl das Ausbleiben wohl ausbleiben wird, denn auch nach zweitausend Jahren mehr oder weniger repressiven und menschenverachtenden Daseins hat die Kirche wohl ebenso wie andere ähnliche und um nichts bessere Institutionen – um beim Vergleich mit dem Stuhlgang zu bleiben – noch lange nicht ausgeschissen. Unverständlicher­weise. Da fällt einem nur Karl Kraus ein, nämlich das mit dem Stiefel und dem Absatz.

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Datum: Sonntag, 20. September 2020 18:17
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